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Marianengraben

Es gibt Filme und Er­in­ne­run­gen, die ich mit mir herumtrage und die ich noch nicht oder nicht mehr ansehen kann. Irgendwo ganz tief hinten in meinem Herzen ist ein Zimmer, in dem ich solche Dinge einlagere. Eben weil sie mir so wichtig sind und trotzdem so scheisse weh tun. So ein bisschen wie ein Schuh­kar­ton mit Er­in­ne­run­gen an und Geschenken von Ex­part­ner*in­nen. Oder ein atomares Endlager.

Seit letztem Mittwoch gibt es in diesem Raum ein Bü­cher­re­gal und vielleicht habe ich auch ein bisschen die Tür auf­ge­las­sen. Am letzten Mittwoch war ich auf einer Buch­pre­mie­re im Kre­ma­to­ri­um Wedding: Jasmin Schreiber stellte „Ma­ria­nen­gra­ben“” vor, einen Roman, der Ende des Monats erscheint und den ich eigentlich vor­be­stellt hatte. Relativ schnell an diesem Abend war da dann aber der Entschluss, dass ich nicht bis Ende Februar warten möchte und so habe ich mir das Buch direkt im Anschluss an die Lesung gekauft. Vielleicht auch ein bisschen deshalb, weil Melanie Wem du willst F.J.Wagner Jasmin ihr Werk signierte.

Buchcover von Marianengraben

In „Ma­ria­nen­gra­ben“ geht es um Paula, Helmut und den Tod. Paulas Bruder ist gestorben. Und als sie sich endlich dazu überwinden kann, nachts auf dem Friedhof ein­zu­bre­chen, Gras aus­zu­reis­sen und ihn zu besuchen, trifft sie Helmut. Helmut ist alt und buddelt gerade Helga — oder besser gesagt: ihre Asche — aus, weil er ein Ver­spre­chen abgegeben hat und das halten will, halten muss. Wenig später fahren die Beiden dann zusammen in die und in den Alpen herum, dabei lernen sie sich kennen. Mit dabei sind noch Judy und später auch ein Huhn namens Lutz mit eigenem Fanclub #lut­zul­tras.

Ich kenne Jasmin nicht persönlich, folge ihr seit gefühlten Ewigkeiten auf Twitter und das zählt ja irgendwie auch ein bisschen. Zumindest war es genug, um mir ein Pre­mie­ren­ti­cket zu kaufen und dann eben das Buch ein zweites Mal, obwohl ich es schon vor­be­stellt hatte. Also saß ich da am Mittwoch und steckte meine Nase rein, anstatt mich zu betrinken und zu un­ter­hal­ten — machte also quasi alles falsch, was ich auf einer Buch­pre­mie­re so hätte falsch machen.

Während der Lesung und als ich das Buch verschlang las, dachte ich mir bei allen Cha­rak­ter*in­nen: Mensch, das hätte jetzt aber auch Jasmin sagen können. Jedes „Hehe“, jedes Stückchen morbider Humor hätte wohl einen wun­der­ba­ren Tweet abgegeben. Und davon gibt es in diesem Buch eine Menge. Mir gefiel ausserdem, dass die Ka­pi­tel­mar­ken Me­ter­an­ga­ben sind: Von 11.000 Metern, der π*Daumen-Tiefe des Ma­ria­nen­gra­bens, steigt Paula und irgendwie auch man selbst auf bis zur Mee­res­ober­flä­che. Und überhaupt: Dieses Bild, das mit dem Ma­ria­nen­gra­ben gezeichnet wird. Und die anderen bisweilen so komischen Bilder. Mehr als einmal dachte ich auch bei Helmut: Shit, das hätte auch ich sagen können.

Ein bisschen erinnerte mich das Buch an „Der Hun­dert­jäh­ri­ge, der aus dem Fenster stieg und verschwand“, nur in klein, intimer, wärmer, schöner und etwas weniger absurd. Und eigentlich doch ganz anders.

Yasmina Banaszczuk, Sascha Lobo und Nico Semsrott kannten „Ma­ria­nen­gra­ben“ schon vorher und haben recht mit den Statements, die sie abgegeben haben, alle mit­ein­an­der. Es ist ein wun­der­schö­nes, sanftes Buch, pha­sen­wei­se halt aber auch ziemlich hart und todtraurig — hehe. Im einen Moment sind noch alle munter und im nächsten steht da so ein dürrer Typ in einem schwarzen Umhang und rührt mit seiner Sense in einer Ge­fühls­sup­pe rum.

Ich habe noch nie bei einem Buch so heftig und viel geweint. Wegen etwas das ich zehn, fünfzehn Jahren relativ er­folg­reich verdrängt habe, von einzelnen Be­rüh­rungs­punk­ten mal abgesehen. Und dafür möchte ich dir aus tiefstem und von ganzem Herzen danken.

Vielleicht muss ich auch mal auf einem Friedhof einbrechen. Ich weiß ja jetzt, wie das geht.

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