bullshit

#besorgtePferde

Am 22.07.2015 fand im Bürgerhaus in Kirchheim eine Veranstaltung statt, bei der - wie die RNZ schrieb - die "Bürger Dampf ablassen" konnten. Sachlich könnte man es auch so formulieren, dass sich Bilkay Öney, die Integrationsministerin des Landes Baden-Württemberg, den Fragen der Bürger_innen von Kirchheim stellen wollte. Ich twitterte von der Veranstaltung, der Hashtag war #besorgtePferde.

Unter anderem berichteten der Rhein-Neckar-Blog und die Rhein-Neckar-Zeitung. Da die beiden Artikel sich doch ziemlich unterscheiden, wurde ich gefragt, welcher denn jetzt stimmt. Deshalb möchte ich meine Eindrücke ebenfalls aufschreiben.

Ich kam gleich zu Beginn ein paar Minuten zu spät und fand noch einen Stehplatz im Foyes des Bürgerhauses, es war sehr voll. Die Verantwortlichen hatten Zettel und Stifte ausgegeben, damit Besucher_innen Fragen stellen konnten. Diese wurden gesammelt und ein paar der Ministerin gestellt.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Jörn Fuchs, dem Vorsitzenden des Stadtteilvereins. Der Rhein-Neckar-Blog schreibt dazu:

Immer wieder muss Herr Fuchs als Moderator “eingreifen”, immer wieder wird Herr Fuchs aber auch “anheizen”.

Gleich zu Beginn wies er alle Teilnehmer_innen darauf hin, dass man hier sei, um sachlich zu reden. Er erntete dafür Gelächter. Weiter erklärte er, dass man sich nur um Kirchheim kümmern wolle und keine allgemein-politischen Fragen diskutieren wird. Die RNZ zitiert Fuchs mit:

Man muss auch mal still sein, auch wenn man eine Äußerung nicht erträgt.

Viele Leute waren wohl eher gekommen, um Dampf abzulassen und nicht, um sachlich zu diskutieren und eine Lösung zu finden. Sie hatten sich wohl offenbar in den Kopf gesetzt, dass sie an dem Abend auf Biegen und Brechen verbindliche Zusagen haben wollten. Wenn man aber keine verbindlichen Zusagen geben kann, warum sollte man dann verbindliche Zusagen geben, die man nicht einhalten kann?

Der Eindruck verstärkte sich später noch, als Öney ihren Tweet erklären sollte. Kaum holte die Integrationsministerin zu einer Erklärung aus, wurde sie entweder von Fuchs oder vom Publikum unterbrochen. Der Grund: Die Erklärung fiel nicht so kurz aus, wie die Kirchheimer_innen sich das gewünscht hatten. Ausserdem fehlte der Bezug zu Kirchheim im ersten Satz, worauf Fuchs, der mit seiner Moderatorenrolle wählerisch umging, und das Publikum scheinbar großen Wert legten.

Die Leute wollen den Tweet erklärt haben, sich den Tweet aber nicht erklären lassen #besorgtePferde

— Nathan (@zeitschlag), 22. Juli 2015

Dass es Defizite in der Informationspolitik gab und gibt, das bestitt niemand. Das könne man doch über die Bürgerämter der Stadt verbessern, war ein Vorschlag. Auch, dass es zu Spannungen kommt, wenn viele Menschen über längere Zeit auf engstem Raum ohne Aufgaben zusammenleben, bestritt niemand. Öney setzt sich dafür ein, dass Geflüchtete hier wesentlich schneller arbeiten können, das würde die Situation wohl entschärfen.

Als Öney verkündete, dass es demnächst (später hieß es ab August) einen Pendelbus in die Stadt geben sollte, gab es ebenfalls Gelächter. Jemand in meinem Umfeld rief: "Dann haben wir noch mehr von denen (Geflüchteten, Anm. d. Red) in der Stadt", was die Person gar nicht gut fand. Später sagte jemand auf der Bühne, dass es sich bei den Asylsuchenden zum Großteil um Menschen handelt, die in Ruhe leben wollen. Jemand rief "Pfui!"

Wie RNB und RNZ schreiben, wurde Öney mehrmals unterbrochen, unter anderem, weil sie nicht die aktuellen Zahlen vorlas. Nichts desto trotz ließ sich Öney zu keinem Zeitpunkt aus der Ruhe bringen. Davor habe ich nach wie vor großen Respekt.

Die RNZ schreibt, dass Öney zwischendurch die Fragenden ("Sind Sie bei der AfD?") beleidigte. Die RNZ ist vielleicht doch gar nicht so schlecht, wenn sie die Mitgliedschaft in der AfD als etwas schlechtes ansieht.

Auch verkündeten immer wieder Kirchheimer_innen, dass man doch nicht ausländerfeindlich sei und verwies darauf, dass man sehr lange friedlich mit den Amerikanern jeder Hautfarbe hier gelebt hätte. Die Kircheimer_innen beklatschten sich selbst dafür.

„Wir haben keine Brandanschläge in Kirchheim, Sie sollten die Sorgen der Menschen in Kirchheim ernst nehmen“ #besorgtePferde

— Nathan (@zeitschlag), 22. Juli 2015

„Das ist kein Ausländerhass, das sind Befürchtungen.“ #besorgtePferde

— Nathan (@zeitschlag), 22. Juli 2015

Nach den Eingangsstatements von Öney wurden ein paar Fragen gestellt, wobei hier Menschen weniger Fragen stellten, als Statements raushauten. Wer genau Fragen stellte, weiss ich nicht mehr. Fragen und Statements waren beispielsweise "Ich habe Sorge um meine alte Mutter, die sich nicht mehr auf den Friedhof traut", "Warum kann man die Verteilung nicht gerechter machen?" oder "Warum dauern Asylverfahren in Baden-Württemberg viel länger als die in Mecklenburg-Vorpommern?". Matthias Kutsch, Heidelberger Stadtrat der CDU, stand neben mir, ihn quälten diese Frage wohl auch. So schreibt er auf Facebook:

Warum sind über die Hälfte der Flüchtlinge im Land in Nordbaden untergebracht? Wo bleiben die Unterkünfte in den anderen Landesteilen? Warum dauern die Asylverfahren in Ba-Wü so lange?

Laut Öney gibt es in Nordbaden durch den Abzug der Amerikaner viele freie Kasernen, die andernorts bereits in Gewerbegebiete umgewandelt wurden. Hier würden sie jetzt für Geflüchtete genutzt. Auf die Frage, warum die Asylverfahren so viel Zeit in Anspruch nehmen, erwiederte Öney, dass die Verteilung der Flüchtlinge in Deutschland nach dem Königsteiner Schlüssel erfolge, wonach Baden-Württemberg 13% der Geflüchteten aufnehmen müsse. Da Mecklenburg-Vorpommern lediglich 2% aufnehmen müsse, könnte die Asylverfahren dort wesentlich schneller bearbeitet werden. In Baden-Württemberg baue man gerade einen entsprechenden Beamtenapparat auf. Dass das Zeit braucht, dessen waren sich viele Kirchheimer_innen wohl nicht bewusst. Matthias Kutsch überhörte die Antworten auf die Frage wohl lieber.

Es gab jedoch auch Fragen, die einen verächtlichen Unterton hatten, wie beispielsweise die Frage, was passiere, wenn im Patrick-Henry-Village mal eine Seuche, die aus Afrika eingeschleppt wurde, ausbreche. Die Antwort darauf war relativ einfach:

Antwort: Keine weiteren Flüchtlinge, Quarantäne, Immunisierung #besorgtePferde

— Nathan (@zeitschlag), 22. Juli 2015

Um die hygienischen Verhältnisse im PHV ging es mehrmals an dem Abend. So bot eine Ärztin im Vorfeld dem PHV ihre Hilfe an, wurde aber nie zurückgerufen.

Auch Theresia Bauer, Landtagsabgeordnete der Grünen, gab ein Statement ab. Darin sprach sie sich unter anderem dafür aus, dass es auf dem Patrick-Henry-Village flächendeckendes WLAN geben müsste. Weiterhin forderte sie die sofortige, pauschale Legalisierung von Menschen, die hohe Bleiberechtschancen hätten. Das würden die Asylverfahren beschleunigen. Dadurch könnten Menschen schneller abgeschoben werden. Im Vorfeld hatte es eine Diskussion zwischen Bauer und Öney gegeben, wer denn auf dem Podium sitzen durfte.

Relativ zum Schluss gab es ein heftiges Statement von einem Menschen, das bereits mit "Wir mögen Asylanten" begann. Im weiteren Verlauf wurde gefordert, Geflüchtete nach Australischem Vorbild in Drittländern statt in Deutschland einzupferchen. Dieses Statements wurde von Fuchs nicht zugelassen, weil man keine allgemein-politischen Fragen diskutieren wollte.

Auch der Vorsitzende des Ausländer- und Migrationsrats kam zum Schluss zu Wort. Die RNZ schreibt dazu:

Der Vorsitzende des Ausländer-/Migrationsrats Michael Allimadi: Sein Statement gefiel den Kirchheimern. Er, der aus Uganda mit seiner Familie einst fliehen musste, ist "dankbar für die Rettungsinsel bei Ihnen". Er ist stolz auf Heidelberg, "seine Stadt", die immer gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus gekämpft habe. Bei dem großen Zustrom der Flüchtlinge wundert es ihn nicht, dass sich Heidelberg "überfordert und allein gelassen fühlt".

Aktivist_innen verteilten Plakate, auf denen "Refugess Welcome" und "Heideberg sagt ja!" zu lesen war. Ich fand die Geste großartig, nahm mir so ein Plakat und stellte mich dazu.

Hier werden Plakate verteilt <3 #besorgtePferde [https://pic.twitter.com/DknqUkukOa](https://pic.twitter.com/DknqUkukOa]

— Nathan (@zeitschlag), 22. Juli 2015

Es gab ein paar besorgte Bürger_innen, die sich mit den Aktivist_innen auf Diskussionen einließen. Ein besorgter Bürger beispielweise diskutierte hinterher mit Menschen, die "Refugees Welcome"-Plakate hochhielten, dass Menschen, die für "Refugees Welcome" sind, eine Mitschuld am Tod der Menschen, die im Mittelmeer ertrinken, tragen. Weil wenn die merken, dass wir hier alle aufnehmen, dann kommen nur um so mehr. Und je mehr Menschen über das Mittelmeer kommen, desto mehr Menschen ertrinken. Logisch, ne?

Auch wenn es einige Menschen gibt, die offenkundig ein Problem mit Menschen anderer Herkunft und Flüchtlingen, Vorurteile, Angst und Hass in sich haben, so hatte ich den Eindruck, dass viele Kirchheimer_innen helfen wollen. Sie sind mit der aktuellen Situation unzufrieden und überfordert. Das stimmt mich vorsichtig optimistisch.

Vorhin sah ich ein Youtube-Video zu Rostock-Lichtenhagen. Und auch wenn dieser Vergleich wahrscheinlich übertrieben ist, so erinnerten mich einige Aussagen von Menschen aus dem Video an Aussagen von Menschen in Kirchheim.

Öney erzählte im Laufe des Abends, dass sie sich vom Rhein-Neckar-Blog gut informiert fühlte. Hardy Prothmann war selbst wohl etwas überrascht, wohin gegen der Mannheimer Morgen das wohl anders interpretierte. Damit schmückt Prothmann sich jetzt wiederum.

Prothmann wird jetzt von einigen Leuten vorgeworfen, der neue "Haus- und Hofberichterstatter von Bilkay Öney" zu sein. Vermutlich fiel sein Bericht des Abends diesen Menschen nicht negativ genug aus. Die Rhein-Neckar-Zeitung hatte schon im Vorfeld gegen Öney geschossen, entsprechend negativ fallen jetzt auch die Nachberichte aus, zumindest für die Ministerin (1, 2).

Das RNF brachte einen Beitrag, in dem ein besorgter Bürger spricht. Zum Schluss kommt das wichtige Statement:

Nicht vergessen sollte man die Flüchtlinge selbst. Sie haben keine Diskussionsforen mit Ministerialvertretern, sondern rund 2600 Mitbewohner in einem umzäunten Gelände, pro Tag einen Arzt für eine Stunde und ganze vier Sozialarbeiter.

Das soll sich laut Öney demnächst ändern.