Ich habe relativ viele RSS-Feeds abonniert, darunter sind Perlen wie unmus, aber auch Alltägliches wie die Zeit oder die Junge Freiheit, um meine Filterblase aufzubrechen. Im Alltag bleibt mir da leider gar nicht die Zeit, alle Artikel ausführlich zu lesen, geschweige denn meine Gedanken dazu zu notieren. Aber sie reicht, um sie zu markieren. Um sie später zu lesen. Um sie eventuell zu verbloggen.
Ich gewöhne es mir gerade an, solche markierten Artikel im Urlaub zu lesen, am Wochenende, wenn ich Zeit habe, wenn ich Lust auf sie habe. Ein solcher Artikel, den ich mich markiert hatte, war "Zur Wahl steht: Die Demokratie" aus der Zeit.
Dieser Artikel stellt ein sehr interessantes Konzept vor: Die Demokratie wie im antiken Griechenland. Im antiken Griechenland wurden die Menschen per Los und damit per Zufall in die Bürgerversammlung gewählt. Dort gab es keine "Wahl-Aristokratie", keine Demokratie von Berufspolitiker_innen, keine Demokratie der "wenige[n] der Klügsten und Guten", wie John Adams schrieb.
Der Rechtsanwalt Thomas Jefferson, Sohn eines wohlhabenden Plantagenbesitzers, formulierte einige Jahre später [interessanterweise in einem Brief an John Adams]: "Es gibt eine natürliche Aristokratie unter Menschen, die auf Tugend und Talent beruht. Ist nicht die beste Regierungsform diejenige, die am effektivsten die Auswahl dieser natürlichen Aristokraten für politische Ämter gewährleistet?
Das liest sich so, als würden es John Adams und Thomas Jefferson 'einfachen' Menschen nicht zutrauen, politische Entscheidungen zu treffen. Es liest sich so, als müsste man den Großteil der Bevölkerung zu ihrem eigenen Schutz entmündigen. Dagegen müsste man doch irgendetwas unternehmen können!
Und tatsächlich:
Adams, Jefferson und Madison hatten genau das richtige Verfahren identifiziert, um eine Volksherrschaft einzuführen, in der ein sehr kleiner Teil des Volkes herrscht: Wahlen. Für wen würden sich die amerikanischen Bürger entscheiden, wenn nicht für die Sachkundigsten, Klügsten, Wohlhabendsten?
Der Artikel erweckt den Eindruck, als wären Wahlen etwas Unfaires, nicht also das, als das sie für gemeinhin gesehen werden:
Noch Mitte des 18. Jahrhunderts wiederholte Montesquieu fast wortgleich die Gedanken von Aristoteles: "Wahl durch Los entspricht der Natur der Demokratie, Wahl durch Abstimmung der Natur der Aristokratie."
Dadurch, dass Wahlen eher der Natur der Aristokratie entsprechen, drängt sich der Eindruck auf, dass es auch in der heutigen Zeit noch solche Regierungen gibt, sonst würde die Zufallsdemokratie nicht als Mittel präsentiert, um etwas gegen Rechtspopulismus zu unternehmen: Gib den Menschen die Möglichkeit, sich zu beteiligen, zu gestalten. Vertraue ihnen, sie werden gute Entscheidungen treffen.
Dass 'normale Menschen' durchaus gute, politische Empfehlungen treffen und somit Einfluss nehmen können, wird am Constitutional Convention (seit 2016: Citizens' Assembly) aus Irland festgemacht, das dort seit 2012 beratend tätig ist. 66 zufällig ausgewählte irische Bürger_innen, ein Vorsitzender und 33 Politiker_innen werden vom Parlament beauftragt, Empfehlungen für wichtige Fragen zu geben. Sie treffen sich regelmässig, hören sich Vorträge an, beraten, diskutieren und sprechen am Schluss eine Empfehlung aus. Und es scheint zu funktionieren:
Wenn man die Bürger zwei Tage lang dabei beobachtet, wie sie Vorträge hören, diskutieren, Fragen stellen, kann man nicht anders, als Vertrauen in diesen Prozess zu schöpfen.
From the outset at this meeting, I was very pleased that members of the Convention appeared to be especially conscious of their responsibilities as they considered an issue on which there were sincere and deeply-held views on both sides of the debate. (Quelle)
Die Constitutional Convention empfahl beispielsweise, die irische Verfassung zu ändern, um Ehen für alle Menschen in Irland zu ermöglichen. Das irische Volk nahm diese Empfehlung in einem durchgeführten Referendum mit 62% an.
Grundsätzlich halte ich diese Konzept der Zufallsdemokratie für eine interessante Idee, die zu funktionieren scheint. Ich halte sie sogar für so gut, dass ich es schade fände, wenn man sie nicht einfach mal ausprobieren würde. Natürlich müsste man dafür sorgen, dass - überspitzt formuliert - nicht auf einmal 66 Nazis in diesem Gremium sitzen. Irland löst das Problem, indem eine zufällige Gruppe, die die irische Bevölkerung repräsentiert, bestimmt wurde. Ein Grund, warum das Konzept in Irland funktioniert, ist außerdem, dass Regierung und Parlament sich der Verantwortung stellen, die Vorschläge des Gremiums zu hören und entsprechend zu behandeln. Die Menschen fühlen sich so ernst genommen.
Ich bin vermutlich einer der letzten, die bereit sind, auf Forderungen von Nazis einzugehen. Natürlich kann man die Idee, mit der Zufallsdemokratie etwas gegen Rechtspopulismus unternehmen zu wollen, als Reaktion auf das Geschrei meist rechter Menschen zurückführen, man könnte es sogar soweit treiben, dass man behauptet, mit dieser Idee Rechtspopulisten entgegen zu kommen, dass Rechtspopulisten und -extreme mit ihrem Geschrei die politische Diskussion bestimmen.
Hier gelingt dem Artikel aber etwas sehr schönes: Auf der einen Seite wird ein bisschen auf Menschen, die etwas anderes als die bisherige Demokratie fordern, zugegangen. Auf der anderen Seite wird ihnen ein Vorschlag unterbreitet, dem sie eigentlich nur zustimmen können. Die AfD fordert Demokratie in Reinkultur? Fein, unterbreiten wir ihnen doch einfach mal den Vorschlag von Demokratie in Reinkultur.
So ganz ist der Vorwurf, dass Menschen durch ihr Geschrei die Diskussion in eine gewisse Richtung lenken, also nicht von der Hand zu weisen.