Ende März habe ich zum ersten Mal bei der Berliner Tafel geholfen. Die erste COVID—19-Welle schwappte gerade hoch — Ende März fühlt sich nach einer Ewigkeit an. Ich hatte ein paar Tage vorher beim RBB gelesen, dass bei den Tafeln in Berlin hauptsächlich ältere Ehrenamtliche helfen. Und weil die alle zur Risikogruppe gehörten, fehlten auf einmal helfende Hände. Ich schrieb eine Email, nahm mir spontan einen halben Tag Urlaub und packte einen Montag lang Lebensmitteltüten, die dann per Sprinter und Lastenrad an die Kund*innen ausgeliefert wurden.
Dann fand ich heraus, dass man samstags beim Sortieren der Lebensmittel helfen kann und seitdem helfe ich samstags beim Sortieren der Lebensmittel, hauptsächlich Obst und Gemüse. Mittags gibt es dann immer selbstgekochtes Mittagessen, Kuchen, Gesellschaft, Gespräche. Mittlerweile ist die Hilfe bei der Tafel ein fester Bestandteil meiner Woche geworden.
Anfang September glänzte ich durch Abwesenheit, ich besuchte Freund*innen. Ich stolperte aber im Zug über eine Reportage auf Arte: Re: Die Lebensmittel-Retter (Ab Ende November dann bei Youtube). Darin wird neben der Tafel mit Sirplus unter anderem auch eine Berliner Supermarkt-Kette vorgestellt, die auch beim Berliner Großmarkt — dort befindet sich auch die Tafel — große Mengen gute, aber unverkäufliche Ware abnimmt. Anschliessend wird die dann in einigen Fillialen in Berlin verkauft.
Ich bin sicherlich voreingenommen, aber ich habe dabei gemischte Gefühle — und wahrscheinlich zu hohe Erwartungen: Gerade sowas muss immer absolut gut sein.
Grundsätzlich finde ich die Idee toll, "abgelaufene" Lebensmittel noch zu verwerten. In unserer Überflussgesellschaft werden Unmengen weggeworfen — das ist erbärmlich. Trotzdem geht Sirplus auf Händler*innen zu und steht somit durchaus in Konkurrenz zur Tafel, die dort Lebensmittel abholen und weiterverteilen. Die Reportage fragt vollkommen zurecht:
Eigentlich gibt es genug für alle Akteure – doch wer wird seinen Überfluss noch spenden, wenn er ihn auch verkaufen kann?
Natürlich kennen Sirplus und Tafel sich und reden. Sabine Werth, die Gründerin der Tafel, schlägt Raphael Fellmer, dem Gründer von Sirplus auch vor, doch direkt auf die Produzent*innen zuzugehen. Dann kämen man sich nicht in die Quere. Warum Fellmer das nicht tut, erschliesst sich mir nicht.
Dass Sirplus unverkäufliche Lebensmittel rettet, ist nur der eine Teil der Geschichte. Ein anderer ist, dass Sirplus ein Unternehmen im Kapitalismus ist, das Geld verdienen muss, Geld verdienen will. Nur das verkauft sich nicht so gut wie die Wohlfühlbotschaft für die wahrscheinlich weisse, wohlhabende Mittelschichtsklientel: "Lebensmittel retten".
Provokant formuliert könnte man sagen, dass der Kapitalismus einmal mehr zu Lasten derer geht, denen es eh schon scheisse geht: Sirplus klaut ihnen die Lebensmittel, um sie dann günstig, aber immer noch teuer in hippen Supermärkten zu verkaufen.
Vor ein paar Tagen war ich dann in einer solchen hippen Filliale, weil ich es mir einfach mal anschauen wollte, bevor ich darüber blogge. Ich habe zwei Flaschen Bier gekauft — die hätte die Tafel eh nicht weiterverteilt.