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Re: betriebsbesetzungen und arbeiten in selbstverwaltung

Weihnachten hat sich dieses letztes Jahr so richtig gelohnt, also auch aus einer Geschenkeperspektive. Mitte Ende (oder Ende Mitte?) November las ich in der monatlichen OXI-Beilage im nd einen Artikel über ein Buch mit dem schönen Untertitel „betriebsbesetzungen und arbeiten in selbstverwaltung“ von Dario Azzellini. Mein Interesse war geweckt und meine Erwartung an den Weihnachtsdude der Wunsch nach diesem Buch kommuniziert. Dann passierte vier Wochen nichts, dann kam das Päckchen und dann fing ich an zu lesen (und gelegentlich auf Twitter zu pöbeln). Noch habe ich das Buch nicht ganz durchgelesen, aber ich habe das Bedürfnis, erste, halbfertige Gedanken und Fragen im Blog zu formulieren.

In dem Buch geht es um rückeroberte Betriebe unter Arbeiter*innenkontrolle (RBA). Anhand von Beispielen aus unterschiedlichen Ländern (u.a. Frankreich, Griechenland, Türkei, Ägypten, USA, Italien, Argentinien, Brasilien, Uruguay) stellt Dario Azzellini verschiedene RBA und ihre Geschichte vor, arbeitet Gemeinsamkeiten heraus und stellt Unterschiede und Umstände fest.

Dabei werden Betriebsbesetzungen oft als Maßnahme des Arbeitskampfes gesehen: Es geht also noch mehr, noch radikaler als „nur“ Streik: Man kann auch einfach ganze Betriebe übernehmen. Die meisten RBA entstehen dabei allerdings aus der Defensive, spontan und aus der Not heraus: Betriebe werden geschlossen, Löhne nicht gezahlt, Maschinen abgebaut. Die Besetzung ist also eine Reaktion, um die Arbeitsplätze zu erhalten. Politisch wird es erst im Laufe der Besetzung. Außerdem geht es häufig um produzierendes Gewerbe: Eine Fabrik für Fenster, eine für Tee, eine, die jetzt Reinigungsmittel und Seife oder eine, die Corona-Antikörpertests herstellt.

Ausnahmen, wie das Hotel Bauen in Buenos Aires, das infolge der Pandemie geschlossen werden musste, bestätigen die Regel. Ich mag an dem Buch, dass es Alternativen aufzeigt, dass es zeigt, was möglich ist mit Solidarität und Durchhaltevermögen. Dadurch eröffnet es mir eine neue Perspektive, vermittelt neue Ideen, lässt meinen Kopf arbeiten und staunen.

Spannend und unter Umständen auch für den ✨grünen Kapitalismus✨ interessant:

Ein Teil der Betriebe musste sich neu erfinden, häufig kann die vorherige, produktive Tätigkeit nicht auf die gleiche Weise ausgeführt werden, weil die Maschinen vom Eigentümer entfernt wurden; weil es eine hochspezialisierte Tätigkeit war, mit sehr wenigen Kunden, zu denen die Arbeiter*innen keine Zugang haben; weil die notwendigen Rohstoffe zu teuer sind; oder weil die Arbeiter*innen dies aus anderen Gründen, wie z.B. Umwelt- oder Gesundheitsschädlichkeit, beschliessen. — aus: vom protest zum sozialen prozess, S. 63

Menschen und RBA sind also ziemlich innovativ, wenn man sie mal machen lässt. Statt Elektromotoren für unnötige Luxusautos zu bauen könnte man ja auch überlegen, das Daimler-Werk in Berlin-Marienfelde zu besetzen und Komponenten für E-Busse oder E-Bikes produzieren.

Aktuell beschäftigen mich noch ein paar Fragen:

Ich mag an dem Buch auch, dass es mich mich fragen lässt: Wie will ich eigentlich in Zukunft arbeiten? Und die Antwort geht immer mehr in Richtung Selbstverwaltung. Fehlt mir nur noch der Mut.


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